Lina Hille­brecht – Arbei­te­rin und KZ-Aufseherin bei der Conti­nen­tal A. G. in Limmer

»Unsere ›Aufseherin[n]en‹ wurden ausge­wech­selt. Eine von ihnen, Lisa [rich­tig: Lina Hille­brecht] […], war eine dunkel­häu­tige Bohé­mi­enne (1) mit einem dunk­len Blick, sehr jung, etwa 25 Jahre alt. Sie hatte auch bei Conti­nen­tal gear­bei­tet. Sie war von erschre­cken­der Bruta­li­tät und schlug alle, die lächel­ten, wenn sie vorbei ging. Sie dachte, man würde sich über sie lustig machen (was tatsäch­lich der Fall war). Ihre Schläge waren sehr heftig und lang­an­hal­tend, und ohne Grund schlug sie immer diesel­ben Frauen. Wir gaben ihr den Spitz­na­men ›la Bohé­mi­enne‹.« … so berich­tet Annette Chalut, die als 20-Jährige wegen Wider­stands­tä­tig­keit aus Frank­reich nach Deutsch­land ins KZ Conti-Limmer depor­tiert worden war.

Wie war Lina Hille­brecht zur KZ-Aufseherin gewor­den?

Irgend­wann im April, Mai 1944 hatte die Conti­nen­tal A.G. im Werk Hannover-Limmer die Arbei­te­rin­nen ganzer Jahr­gänge versam­melt. Wie in vielen ande­ren Betrie­ben zu dieser Zeit erschien hier der SS-Offizier Edmund Bräu­ning und erklärte, dass er Aufsichts­füh­rende für ein Umer­zie­hungs­la­ger in Ravens­brück brau­che. Er beschrieb die Tätig­keit in schö­nen Farben, pries die vorzüg­li­che Verpfle­gung, die Unter­brin­gung und das gute Einkom­men. Konzentra­tions­lager und Häft­linge erwähnte er angeb­lich nicht. (2)

Mehrere junge Frauen melde­ten sich frei­wil­lig. Darun­ter auch die ledige Lina Hille­brecht. Im Juni 1944 kam sie in das Frauen-KZ Ravens­brück und wurde dort in ihre Tätig­keit als KZ-Aufseherin einge­wie­sen. Schon nach einer Woche wurde sie in ein KZ-Außenlager bei einem Rüstungs­be­trieb in Magde­burg versetzt, und nach weite­ren vier Mona­ten kam sie in das KZ-Außenlager Conti-Limmer in Hanno­ver. Ein halbes Jahr zuvor war sie in diesem Betrieb selbst Arbei­te­rin gewe­sen.

Am 14. Dezem­ber wurde sie 1919 in der Fanny­straße 37 (3) gebo­ren, wo sie auch aufwuchs. Dieser »Fanny-Block« war eine Miets­ka­serne, die 1854 von der Hanno­ver­schen Baum­woll­spin­ne­rei als Werks­sied­lung in zwei zwei­ge­schos­si­gen Häuser­rei­hen ange­legt worden war. Diese Wohn­um­ge­bung war selbst im Arbei­ter­stadt­teil Hannover-Linden eine der ärmlichs­ten. Die schlich­ten Wohnun­gen bestan­den über­wie­gend aus drei, zum Teil aber auch aus vier Räumen und waren ca. 30 qm groß. (4) Die sani­tä­ren Verhält­nisse waren kata­stro­phal, und die hygie­ni­schen Probleme besser­ten sich nur gering­fü­gig, als nach der großen Thyphus­epi­de­mie, von der im Herbst 1926 ausschließ­lich die Arbei­ter­vier­tel Linden, Rick­lin­gen und Altstadt betrof­fen waren, (5) Wasser­spül­k­lo­setts im Fanny-Hof einge­rich­tet wurden.

In dem beson­de­ren sozia­len Mikro­kos­mos des Fanny-Blocks, zwischen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und kommu­nis­ti­schen Arbei­ter­fa­mi­lien, lebte Lina Hille­brecht zusam­men mit ihren Eltern, der Schwes­ter Emma (gebo­ren am 15.07.1915) und den zwei Brüdern in der Wohnung. Nach der Eheschlie­ßung der Schwes­ter 1935 war die beengte Wohn­si­tua­tion wahr­schein­lich etwas erträg­li­cher gewor­den.

Das Verhält­nis zwischen Eltern und Kindern war im Wohn­um­feld im Allge­mei­nen durch Forde­rung nach strik­tem Kada­ver­ge­hor­sam geprägt. »Erwach­sene und Kinder erleb­ten sich einfach ganz unmit­tel­bar im Alltag, wobei der alltäg­li­che Kontakt sich in erster Linie als strik­tes Respekts­ver­hält­nis darstellte: Unter­ord­nung der kind­li­chen Bedürf­nisse unter die Inter­es­sens­per­spek­tive der Erwach­se­nen, die weit­ge­hend durch die mate­ri­elle Not geprägt war. ›Respekt haben – nicht frech sein – sich ruhig verhal­ten – die Pflich­ten erfül­len – keine Wider­worte haben – keine Konflikte riskie­ren – keine unan­ge­mes­se­nen Wünsche riskie­ren‹, so wird fast durch­gän­gig die Bezie­hun­gen zu den Eltern, zu Erwach­se­nen über­haupt charak­te­ri­siert.« (6) Die Mitar­beit der Kinder war eine selbst­ver­ständ­li­che Pflicht in den Fami­lien.

Poli­tisch domi­nier­ten die Arbei­ter­par­teien. Zeit­zeu­gen erin­ner­ten rück­bli­ckend ein SPD-Übergewicht, aber auch ein Verhält­nis SPD:KPD von 50:50. »Zuge­hö­rig­keit zu Arbei­ter­ver­ei­nen, insbe­son­dere dem Arbei­ter­sport und der Gewerk­schaft, war verbrei­tet.« (7)

1941 verlobte sich Lina Hille­brecht mit dem sieben Jahre älte­ren Kurt aus der Vikto­ria­straße.

Seit Juli 1941 war sie als Arbei­te­rin im Werk Limmer der Conti­nen­tal A.G. beschäf­tigt. Dort­hin kehrte sie im Okto­ber 1944 in Uniform zurück. Sie musste nicht wie die meis­ten ande­ren SS-Aufseherinnen im Lager über­nach­ten und hatte die Geneh­mi­gung, zu Hause zu schla­fen. Täglich ging sie nach der zwölf­stün­di­gen Dienst­zeit die zwei Kilo­me­ter in die Wohnung zurück.

Als das Lager geräumt wurde, will sie im April 1945 auf eige­nes Risiko nach Hause gegan­gen sein.

Als am 10. April ameri­ka­ni­sche Trup­pen in Hanno­ver einrück­ten, hingen im Fanny-Block rote Fahnen aus den Fens­tern! (8)

Nach­dem Lina Hille­brecht von ehema­li­gen KZ-Häftlingen erkannt worden war, flüch­tete sie im Septem­ber 1945 nach Düssel­dorf. Zwei Monate später kam sie nach Hanno­ver zurück und arbei­tete ab Dezem­ber 1945 in einem Beklei­dungs­amt der Besat­zungs­macht, bis sie am 20. März 1946 in der Fanny­straße verhaf­tet wurde. Die Wohn­adresse war den fran­zö­si­schen Gefan­ge­nen schon im Lager bekannt gewor­den; als einzige SS-Aufseherin aus dem KZ Conti-Limmer wurde sie vor Gericht gestellt. Das Fest­nah­me­pro­to­koll sagt aus: Beruf Nähe­rin, 1,68 m groß, 55 kg schwer, dunkel­braune Haare, grüne Augen­farbe, frischer Teint.

Im Ermitt­lungs­ver­fah­ren gab Lina Hille­brecht zu, drei Fran­zö­sin­nen und 5 Russin­nen mit der Hand ins Gesicht geschla­gen zu haben. (9) Ein fran­zö­si­sches Mili­tär­ge­richt verur­teilte sie am 17. Septem­ber 1947 zu 10 Jahren Gefäng­nis. (10) Lina Hille­brecht musste ihre Strafe im Straf­ge­fäng­nis Germers­heim bei Speyer antre­ten.

Durch den fran­zö­si­schen Hohen Kommis­sar wurde im Gnaden­wege ein Straf­nach­lass gewährt, und am 12. April 1952 endete die Straf­haft. Durch das Hilfs­werk der Evan­ge­li­schen Kirche in Deutsch­land wurde Hille­brecht »entspre­chend betreut«. Am 18.04.1952 wohnte Lina Hille­brecht wieder in der Fanny­straße 37, die nun eheli­che Wohnung ihrer Schwes­ter war. Die Eltern waren mitt­ler­weile verstor­ben. (11)

Am 19.08.1953 schloss sie mit ihrem lang­jäh­ri­gen Verlob­ten die Ehe. Trotz des Frau­en­über­schus­ses nach Kriegs­ende und der sechs­jäh­ri­gen Haft­zeit war er ihr verbun­den geblie­ben. 1953 zog das Ehepaar in die Schu­len­bur­ger Land­straße 110, einen großen Wohn­block in wenig attrak­ti­ver Wohn­lage. 1955 wurde eine Toch­ter gebo­ren. (12) Im März 1980 starb der Ehemann. Das Leben von Lina Sch. endete sechs Jahre später im Okto­ber 1986 im Viet­hof 19 in Hannover-Vahrenwald. (13)

Was hatte 42 Jahre zuvor die junge Frau bewo­gen, sich für die Tätig­keit im KZ zu melden? Hatte der höhere Lohn gelockt? War es die Hoff­nung auf sozia­len Aufstieg gewe­sen – von der Arbei­te­rin zur Ange­stell­ten? Wollte sie dem ärmli­chen Leben im Fanny-Block entflie­hen?

Es blei­ben viele offene Fragen …


(1) ›Zigeu­ne­rin‹
(2) vgl. Marga­rete Buber-Neumann: Als Gefan­gene bei Stalin und Hitler, Stutt­gart, Herford 1985, S. 312.
(3) Adress­buch v. Hanno­ver u. Linden 1920.
(4) Ilse Winter: Alltag und Arbei­ter­kul­tur in der Fanny­straße, Typo­skript, Diplom­ar­beit 1978, S. 65.
(5) https://​www​.spie​gel​.de/​g​e​s​c​h​i​c​h​t​e​/​t​y​p​h​u​s​-​e​p​i​d​e​m​i​e​-​i​n​-​h​a​n​n​o​v​e​r​-​a​-​9​4​7​2​6​4​.​h​tml
(6) Winter: Alltag, S. 85.
(7) ebd.
(8) Ruth Loah: Kinder­sze­nen im Kriege, in: Helmut Schmidt et al.; Kind­heit und Jugend unter Hitler, Berlin 1992.
(9) Aussage der Lina Hille­brecht am 19. März 1946 (PRO: WO 309/406).
(10) Über den Prozess erschien 1993 ein Arti­kel, in dem aus Zeugin­nen­aus­sa­gen ehema­li­ger Gefan­ge­ner des KZ Limmer zitiert wird: Hanna Elling, Ursula Krause-Schmitt: »Die Ravensbrück-Prozesse vor fran­zö­si­schen Mili­tär­ge­rich­ten in Rastatt und Reut­lin­gen«.
(11) Der Vorstand des Straf­ge­fäng­nis­ses Germers­heim im Schrei­ben an die Zentrale Rechts­schutz­stelle in Bonn vom 12.05.1952, in Akte ZRS_Gnadenverf. Lina Hille­brecht.
(12) Einwoh­ner­mel­de­kar­tei Hanno­ver.
(13) Auskunft der Melde­be­hörde.