Simonne Rohner, Gefangene des KZ Conti-Limmer, schreibt in ihrem kurz nach der Befreiung verfassten Bericht »En enfer …« über den November 1944:
»Einige Tage nachdem ich ins Revier aufgenommen worden war, kamen in der Nacht drei Häftlinge aus Auschwitz; zwei verließen das Lager morgens mit der SS wieder, eine blieb: Lili. Sie war Ungarin, Jüdin, 40 Jahre alt, das Gesicht vom Leiden gezeichnet, prachtvolle Zähne, kurze lockige Haare, ihr Mann, ein Chirurg, war dort an Typhus gestorben. Ihre zwölfjährige Tochter war mit 500 weiteren Kindern in die Gaskammer geschickt worden. Als sie uns diese schreckliche Situation schilderte, wollten wir ihr nicht glauben: ›Sie übertreibt, sie ist verrückt!‹ Konnte so etwas sein? Jeden Tag erfuhren wir neue Einzelheiten über die Hölle von Auschwitz, Zweifel zunächst, dann die Gewissheit, dass unser Lager im Vergleich dazu das Paradies war. Übrigens sagte Lili zu uns: ›Glaubt mir, ihr seid hier glücklich dran …‹ Glücklich? Ja, trotz allem, verglichen mit dem Leben, das Lili uns beschrieb, waren wir hier glücklich. Sie war eine intelligente Frau, auch wenn ihre geistigen Kräfte nachgelassen hatten, sie sprach mehrere Sprachen, war sehr gebildet, sehr musikalisch, sie sang uns wehmütige Lieder voller Heimweh aus ihrer Heimat vor. Die [SS-Oberaufseherin] ›Rousse‹ bestimmte sie zur Hilfs-Krankenschwester von France.
Ich hatte häufiger die Gelegenheit, mich mit ihr zu unterhalten, und so erfuhr ich Einzelheiten über den Tod ihrer Tochter. Lili brach in Tränen aus, die Geschichte war fürchterlich. Das Kind hatte Scharlach, aber war schon auf dem Weg der Besserung, als eines Morgens Lastwagen vorfuhren, in denen schon Kinder waren. Die Kinder aus dem Revier, ob krank oder auf dem Weg der Genesung, mussten nackt vortreten. Lili arbeitete als Krankenschwester in einem Gebäude in der Nähe, sie eilte herbei, warf sich dem Chefarzt zu Füßen, beschwor ihn, er stieß sie mit Schlägen seiner Reitgerte weg: ›Juden brauchen keine Kinder!‹ … Die Kleine sah ihre Mutter und rief ihr zu: ›Mama, rette mich, ich bin zu jung um zu sterben, Mama, Mama!‹ Lili saß weinend unter uns und wiederholte nur: ›Mein kleines Mädchen, mein armes kleines Mädchen!‹ Sie warf sich vor, dass sie nicht den Mut gehabt hatte, mit ihr zu sterben; dann beschrieb sie plötzlich ihr Heimatland, die Feste, Theaterstücke. Arme Lili!«
Die beiden anderen jüdischen Frauen wurden vermutlich in das KZ Langenhagen gebracht, denn Maria Suszyńska-Bartman berichtet in ihrem Buch »Nieswięte męczennice« noch über die Zeit in Langenhagen:
»Zwei jüdische Frauen aus Ungarn kamen im Lager an. […] Sie sollten für die Kopfhygiene zuständig sein.«
Nach der Bombardierung und Zerstörung des KZ Langenhagen wären die beiden zusammen mit den anderen Gefangenen am 6. Januar 1945 wieder in das KZ Conti-Limmer gelangt.
Sehr wahrscheinlich waren Lili und die beiden anderen Frauen in einer Gruppe von 20 gefangenen Krankenpflegerinnen aus dem KZ Auschwitz über das KZ-Außenlager Salzgitter-Watenstedt gekommen. Dort wurden die Frauen auf die Neuengammer Frauen-Außenlager für die Verwendung in den Sanitäts-Revieren verteilt.
Die polnische Pharmazeutin Zofia Pracka-Raczynska berichtete später in einem Brief an eine polnische Zeitschrift:
»Im Oktober 1944 wurde ich […] von Dr. Mengele zum ›Transport‹ aussortiert. Nach der Quarantäne […] fuhr ich Anfang November ins Unbekannte. 20 Gefangene in einem Personenzug, eskortiert von 8 SS-Leuten. Das deutsche Volk sah es mit Empörung, ich hörte sogar Worte wie: ›Ihr solltet an der Front kämpfen und nicht auf diese wehrlosen Frauen aufpassen.‹ Wir fuhren […] nach Wattenstadt […]. Nachher wurden wir in verschiedene Lager herausgeschickt.«
Im »Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau« finden sich fünf solche Transporte, mit denen im November 1944 und im Januar 1945 insgesamt 22 Frauen aus Auschwitz in das KZ Neuengamme bzw. dessen Außenlager gebracht wurden (vgl. Hans Ellger: »Zwangsarbeit und weibliche Überlebensstrategien – Die Geschichte der Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Neuengamme 1944/45«, S. 274 f.).