Die Unmög­lich­keit, zu verges­sen

Das Konzentra­tions­lager Conti-Limmer bestand vom Sommer 1944 bis zur Befrei­ung durch die briti­sche Armee im Früh­jahr 1945. Hier waren über 1000 Frauen einge­sperrt, die im Conti-Werk Limmer, in den Brin­ker Eisen­wer­ken in Langen­ha­gen und bei der Enttrüm­me­rung in Linden Zwangs­arbeit leis­ten muss­ten.

Die Gefan­ge­nen waren fran­zö­si­sche Résistance-Angehörige, Über­lebende aus dem Umfeld des Warschauer Aufstan­des, spani­sche Repu­bli­ka­ne­rin­nen, Solda­tin­nen der Roten Armee, Romnija aus dem Balti­kum und aus ihren abge­brann­ten Dörfern verschleppte Frauen aus dem Gebiet des heuti­gen Weißrussland/Belarus.

Sie hatten vor der Verle­gung nach Limmer bereits andere KZs über­stan­den. Die meis­ten der Frauen wurden – völlig erschöpft, krank und hung­rig – vor der Befrei­ung noch gezwun­gen, nach Bergen-Belsen zu laufen. Viele von ihnen star­ben dort.

Mit der Befrei­ung war all das nicht vorbei.

In der nicht­ver­folg­ten deut­schen Bevöl­ke­rung wurden schnell Forde­run­gen nach einem »Schluss­strich« laut. Niemand wollte ein »Nazi« gewe­sen sein, und die Schuld­ab­wehr brei­tete sich über das Land wie ein kollek­ti­ver Gedächt­nis­ver­lust.

Die Verfolg­ten, Über­le­ben­den, Befrei­ten aber konn­ten nicht verges­sen.

Auch nach der Heim­kehr blie­ben die Tortu­ren in den Köpfen und Körpern präsent. Die Welt der Menschen außer­halb des Lager­kos­mos, der Umgang mit ihnen, war fremd gewor­den.

Das KZ verfolgte die befrei­ten Frauen weiter, auch nach­dem sie es verlas­sen hatten.

Und es verfolgte auch ihre Kinder.

Ein beklem­men­des Beispiel fanden wir in einem Bericht, der ein Schlag­licht wirft auf die Lebens­si­tua­tion einer Frau und Mutter nach ihrer Befrei­ung aus dem KZ Conti-Limmer.

Die Comtesse Béatrice de Flers, gebo­ren 1899 in Paris, schloss sich nach der deut­schen Beset­zung Frank­reichs gemein­sam mit ihrem Ehemann der Résis­tance an. Sie halfen, abge­schos­sene alli­ierte Flie­ger zu retten. 1943 wurden sie verhaf­tet. Béatrice wurde in das KZ Ravens­brück und von dort nach Hannover-Limmer depor­tiert, ihr Mann Marcel, der Vater ihrer vier Kinder, im KZ Maut­hau­sen ermor­det.

Béatrice de Flers verstarb 1965 in Paris.

Zwan­zig Jahre zuvor hatte sie in Limmer in einer elen­den Bara­cke gehaust, umge­ben von elek­trisch gela­de­nen Stachel­draht­zäu­nen, unter Hunger und Krank­hei­ten leidend, und jeden Morgen von SS-Aufseherinnen zur Arbeit in die Gummi­fa­brik getrie­ben. Auf ihrem Strei­fen­kit­tel trug sie die Häft­lings­num­mer »4857« über dem roten Winkel der poli­ti­schen Gefan­ge­nen.

Von Béatrice de Flers und ihren Kindern erzählt Sylvia Couturié in ihrem auto­bio­gra­fi­schen Buch »No Tears in Ireland«.

Sylvia Couturié wurde 1939 von ihren Eltern getrennt. Sie war als 11-jähriges Kind mit ihrer Nanny nach Irland gereist und musste wegen des Kriegs­aus­bruchs dort blei­ben. Erst 1945 konnte sie zu ihren Eltern nach Le Mesnil in Frank­reich zurück­keh­ren.

Ostern 1945 bekam die Fami­lie Besuch:

Es kommen auch die drei­zehn­jäh­ri­gen Zwil­linge Johnny und Bertie de Flers. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater sind in Konzen­tra­ti­ons­la­gern, da sie im Wider­stand sehr aktiv waren. Sie waren sehr mutig und haben vielen Menschen das Leben geret­tet. Ich freue mich sehr darauf, sie kennen­zu­ler­nen. […] Sie haben zwei Schwes­tern, Beatrice und Marie-Claire, die in unse­rem Alter sind, aber nicht kommen, da sie getrennt zu ande­ren Leuten in den Urlaub gefah­ren sind. Ich denke, dass sie es hassen müssen, in einer so drama­ti­schen Zeit nicht zusam­men zu sein, wo sie doch bereits von ihrem Vater und ihrer Mutter getrennt sind, von denen sie keine Nach­richt erhal­ten haben. […]

Johnny und Bertie, die perfekt Englisch spre­chen, gehen nicht zurück zu ihrer Schule in Paris, sie sollen länger [bei uns] in Le Mesnil blei­ben und ich frage mich, warum.
Ein paar Tage später sitze ich mit einem Buch in der Nähe des Hauses, als ich Johnny in den Garten rennen sehe. Ich renne ihm nach und finde ihn zusam­men­ge­sackt auf einer Bank beim Tennis­platz. Mein Vater hat ihm und seinem Bruder gerade gesagt, dass ihr Vater gestor­ben ist, aber dass ihre Mutter lebt und in ein paar Tagen in Le Mesnil ankom­men wird.
Ich halte Johnny in meinen Armen, seine liegen um meinen Hals und ich denke, dass sein Schluch­zen niemals aufhö­ren wird. Nichts kann sein Weinen stop­pen, keine Worte können ihn trös­ten, das Herz des klei­nen Jungen ist gebro­chen. Nach einer langen Zeit gehen wir durch die Küchen­tür zurück ins Haus. Ich bringe Johnny in sein Zimmer und ziehe ihm Schuhe und Jacke aus, ich lege ihn ins Bett und decke seinen zittern­den Körper mit einer Decke zu. Dann ziehe ich die Vorhänge zu, und er weint immer noch, als er einschläft. Dann gehe ich und suche nach dem armen klei­nen Bertie, der nirgends zu finden ist. Ich sage es meinem Vater, und alle fangen an, nach ihm zu suchen, aber ohne Erfolg. […] Bertie taucht am nächs­ten Tag zur Mittags­zeit auf, aber er ist nicht mehr derselbe Junge, er spricht nicht, er weint nicht, er steht unter Schock und ist vor Panik und Schmerz völlig stumpf gewor­den und ich denke, dass meine ganze Trau­rig­keit im Vergleich zu der ihri­gen gering ist. […]

Madame de Flers kam ein paar Tage später aus Ravens­bruck [rich­tig: aus Hannover-Limmer]. Sie ist groß, über 1,70 Meter, wiegt aber nur 30 Kilo. Ich habe noch nie jeman­den gese­hen, der so dünn ist, so völlig kahl, mit großen leblo­sen, einge­sun­ke­nen Augen.
Sie isst eine winzige Menge in ihrem Zimmer und spricht nur flüs­ternd. Wenn das Wetter warm ist, wird sie in den Garten gebracht, an den Teich mit seinen Gold­fi­schen und Seero­sen, und dort sitzt sie unbe­weg­lich in einem Sessel. Bertie sitzt schwei­gend auf einem Stuhl neben ihr.
Sie will nieman­den sonst. Sie fragt nicht nach ihren Töch­tern oder nach Johnny, also sitzen er und ich auf der Bank des Tennis­plat­zes in der Ferne und schauen ihnen zu und halten uns gegen­sei­tig die Hand. Nach einer Weile flüs­tert Johnny mir zu:
»Sie will mich nicht, sie liebt mich nicht mehr.«
»Sie ist sehr krank, schau, wie dünn sie ist, sie ist noch nicht stark genug, um dich auch zu lieben, sie kann sich nur an einen Menschen auf einmal gewöh­nen zur Zeit, sie wird dich viel­leicht lieben, wenn es ihr besser geht …«
»Wird sie ster­ben?«
»Das glaube ich nicht, alle kümmern sich um sie …«
»Aber sie will mich nicht …«
[…]

Madame de Flers erholte sich lang­sam, aber nie ganz. Von ihren vier Kindern liebte sie nur eines. Ihre älteste Toch­ter Beatrice war so trau­ma­ti­siert, dass sie Selbst­mord beging […].

Wir werden zu Erwach­se­nen mit zerrüt­te­ten Kind­hei­ten mit tiefen unsicht­ba­ren Narben. Da wir selten über unsere Gefühle spre­chen, igno­rie­ren uns die Erwach­se­nen schnell mit den Worten: »Sie sind jung, sie werden es verges­sen …« und gehen ihren übli­chen Geschäf­ten und Vergnü­gun­gen nach. Kinder leiden anders. Anders als Erwach­sene verste­hen sie in Krie­gen nicht die Gründe und niemand erklärt sie ihnen. Sie nehmen nicht an heroi­schen Aktio­nen oder großen Aben­teu­ern teil und sie haben nicht den Trost von Liebes­af­fä­ren, die tausend­mal aufre­gen­der und leiden­schaft­li­cher sind als im Frie­den. Sie, die armen klei­nen Teufel­chen, sind immer allein und verängs­tigt in ihren kalten und engen Betten.

Ein paar Tage später bat Madame de Flers darum, nach Paris gebracht zu werden. Sie reiste eines frühen Morgens mit ihren Söhnen ab.