Schweigeminute
Widerstand im KZ Conti-Limmer: Am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 1944, unterbrechen KZ-Gefangene in der Continental-Fabrik mittags die Zwangsarbeit für eine Schweigeminute. Jacqueline Francis-Bœuf berichtet:
»Am 14. Juli gibt es eine kleine Revolution in der Fabrik: Die Tagschicht hatte zu Ehren des Tages eine Schweigeminute vereinbart, und pünktlich um 11 Uhr unterbrechen alle die Arbeit, erheben sich und bleiben still stehen. Die diensthabenden Aufseherinnen sind verdutzt, schreien ›Aufstand‹: ›Roquet‹, ›Vache‹ und ›Fée Carabosse‹, [1] selbst ehemalige Dienstmädchen oder Fabrikarbeiterinnen, geraten außer sich vor Wut, aber die Schläge, die von allen Seiten kommen, entlocken den Häftlingen nicht den geringsten Laut. Um eine Minute nach 11, als die Arbeit wieder aufgenommen wird, können die ›Mäuse‹ stolz darauf sein, wie heldenhaft sie ihre Schicht bezwungen haben.«
Flucht
In der folgenden Nacht gelingt einer der Frauen, Mariette Muller, die Flucht. Ihre Mitgefangene Simonne Rohner schreibt:
»Am 14. Juli abends gab es Alarm. Die Alliierten feierten würdevoll diesen Festtag. […] Als der Alarm zu Ende war, wurden wir gezählt, bevor wir zurück in die Fabrik gingen. Verblüffung ! Eine fehlte … Die SSlerinnen liefen kopflos herum und holten alle Kameradinnen, die bereits in den Block gegangen waren, wieder raus. Trouddy musste uns im Schein einer Lampe alle namentlich aufrufen : Hier! Hier! Hier! … Mariette! Keine Antwort.
Zuerst wurde der Unterstand durchsucht, dann der Block ; die SS ging zur Fabrik – nichts! Wir wurden befragt. Beim Verlassen der Werkhalle war sie noch bei uns gewesen, in dem folgenden Durcheinander hatten wir sie aus den Augen verloren. Die ›Fauve‹ [2] und der ›Mec‹ [3] verteilten ausgiebig Schläge, die wir insgeheim lächelnd einsteckten. Eine weniger! Wir wünschten alle, dass sie es schaffen würde; in der Zwischenzeit standen wir Strafe unter dem Sternenhimmel, im Herzen eine große Freude. Unglaubliche Mariette! Sie hatte die Gelegenheit gut genutzt. Nach zwei Stunden des Wartens brachte man uns in die Fabrik zurück.
Am nächsten Tag mussten wir nach der Rückkehr Strafe stehen, ›bis man sie gefunden hätte‹, so wurde uns gesagt. Die Stunden vergingen, wir spürten unsere Müdigkeit nicht, alle waren wir in Gedanken bei Mariette auf dem Weg in die Freiheit! Sie wurde nicht erwischt; erst nach der Befreiung erfuhren wir, dass sie einen Unterschlupf gefunden hatte auf einem Bauernhof etwa 20 Kilometer entfernt, wo die Bauern sie versteckten bis zur Ankunft der Amerikaner.«
Wer weiß etwas?
Lebte Mariette Laure Muller (vielleicht auch unter dem Namen Müller) nach der Befreiung in der Gegend von Hannover? Ihre ehemalige Lagerkameradin Annette Chalut berichtete 2003 in einem Interview,
»ich habe versucht, herauszufinden, was aus ihr geworden war, und es hieß, sie sei … sie habe sich … sie hätte Bekannte in der Gegend gehabt, und es stimmt ja auch, sie musste ihr gestreiftes Kleid mit Zivilkleidung tauschen, es war nicht so einfach, sie sprach Deutsch, weil sie aus dem Elsass kam, und sie war […] nicht nach Frankreich zurückgekehrt, sie ist in Deutschland in der Gegend von Hannover geblieben, das ist alles, was ich über sie erfahren habe, danach weiß ich nichts mehr.«
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[1] Spitznamen der Gefangenen für die SS-Aufseherinnen: Die ersten beiden bedeuten »Kläffer« und «Kuh«, die »Fée Carabosse« ist eine in Frankreich bekannte Märchenfigur einer bösen Fee.
[2] »Wilde«, Spitzname für die SS-Kommandantin (»Kommandoführerin«).
[3] »Macker«, Spitzname für den SS-Kommandanten (»Kommandoführer«).